Hilfe für Erwachsene Auch viele Erwachsene sind von ADHS betroffen. Die Krankheit besteht in der Regel seit der Kindheit oder Jugend, wird manchmal aber erst später erkannt. Welche Therapien und Medikamente helfen können Was ist ADHS?
Wenn von ADHS die Rede ist, so fast immer im Zusammenhang mit Kindern
und Jugendlichen. Doch so manchen begleitet die Erkrankung bis ins
Erwachsenenalter. Bei anderen wird sogar erst dann die Diagnose
gestellt. Wissenschaftler gehen davon aus, dass etwa zwei von hundert
Erwachsenen unter ADHS leiden.
ADHS steht für „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“. Das
Krankheitsbild ist bei Erwachsenen deutlich schwerer zu erkennen, weil
die Anzeichen dafür – anders als bei Kindern – vielfältiger sein
können. Weil die Symptome
auch oft auf andere Leiden hindeuten, wird ADHS häufig mit anderen
psychischen Erkrankungen verwechselt. Die Auswirkungen bei Erwachsenen
sind nicht minder schwerwiegend als bei Kindern. Ein unbehandeltes ADHS
konfrontiert auch erwachsene Betroffene sowohl beruflich wie privat mit
zuweilen großen Schwierigkeiten.
Die Ausprägung der Krankheit kann sehr unterschiedlich sein. Eine vereinfachte Betrachtungsweise anhand der Leitsymptome hilft, sich ein wenig zu orientieren: Rund 60 Prozent der Betroffenen leiden unter dem sogenannten kombinierten Typ, bei dem Unaufmerksamkeit, Impulsivität und vermehrte Unruhe auftreten. Das heißt, hier liegen die Störungen im Wahrnehmungs- und im sozialen Bereich. Dieser umfasst die Interaktion mit anderen Menschen, aber es geht auch um die Planung des eigenen Alltags. Die übrigen 40 Prozent teilen sich auf zwei weitere Typen auf: Bei 30 Prozent stehen die Unaufmerksamkeit (ADS) im Vordergrund, bei 10 Prozent die Impulsivität und Unruhe.
Fast jeder erwachsene ADHS-Patient kennt die Symptome bereits aus
seiner Kindheit. Dennoch sind weit weniger Erwachsene von der
Aufmerksamkeitsstörung betroffen als Kinder. Der Grund: Die Störung geht
mit zunehmendem Alter häufig von alleine zurück. Wie das geschieht, ist
bis heute nicht geklärt. „Ein Drittel der Betroffenen, die als Kind
unter ADHS litten, hat im Erwachsenenalter keine Probleme mehr, ein
weiteres Drittel leidet nur noch mäßig unter den Symptomen. Das letzte
Drittel hat weiterhin stark mit der Störung zu kämpfen“, erklärt
Professor Dr. Alexandra Philipsen, geschäftsführende Oberärztin der
Klinik für Psychiatrie der Universitätsklinik Freiburg und Leiterin der
Arbeitsgruppe ADHS bei Erwachsenen. Auch die Verteilung zwischen
männlichen und weiblichen Betroffenen ändert sich mit zunehmendem
Alter. Während in Kindheit und Jugend viermal so viele Jungen unter
ADHS leiden wie Mädchen, ist die Geschlechterverteilung unter
Erwachsenen nahezu ausgeglichen.
Einige Symptome haben Kinder und Erwachsene mit ADHS gemeinsam, andere Auswirkungen unterscheiden sich. Zu den Gemeinsamkeiten gehört in erster Linie die große Schwierigkeit, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. „Die Betroffenen sind sehr leicht ablenkbar. Es ist immer alles andere interessant und zugleich erscheint alles gleich wichtig“, sagt Cordula Neuhaus, Psychologin und Heilpädagogin aus Esslingen, die sich schwerpunktmäßig mit ADHS beschäftigt. So kommt es, dass die Betroffenen in ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung meist signifikant schlechter abschneiden als der Rest. Darüber hinaus haben Menschen mit ADHS vielfach große Probleme, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Reizbarkeit und häufige Wutausbrüche sind die Folge. Zwar können ADHS-Patienten spontan sehr gefühlvoll und hilfsbereit sein, jedoch fällt es ihnen meist schwer einzuschätzen, wie ihr eigenes Verhalten auf ihre Mitmenschen wirkt. Ein Unterschied zwischen jung und alt: Während bei Kindern mit ADHS vor allem die körperliche Unruhe sehr betont ist, äußert sich die Hyperaktivität bei Erwachsenen mehr in einer starken inneren Unruhe und Nervosität. So haben erwachsene Betroffene zwar – ähnlich wie Kinder – Schwierigkeiten mit längeren Tätigkeiten im Sitzen, allerdings sind sie in ihrer Impulsivität nicht mehr so ungebremst wie noch in jüngeren Jahren. „Die innere Unruhe zeigt sich bei Erwachsenen mit ADHS häufig durch Einschlafstörungen. Bei mehr als 50 Prozent der Betroffenen kommen außerdem ausgeprägte Stimmungsschwankungen hinzu“, so Philipsen. Zudem neigen viele zu riskantem und selbstgefährdendem Verhalten im Straßenverkehr. Das Hauptproblem, mit dem erwachsene Betroffene sowohl im beruflichen wie im privaten Bereich zu kämpfen haben, ist jedoch ihr unorganisierter Alltag. Häufig sind sie unpünktlich, schieben wichtige Termine auf, vergessen Abmachungen und Geburtstage oder verlegen Gegenstände. Bei Kindern nimmt ein strukturiertes Umfeld noch Einfluss, Erwachsene sind diesbezüglich auf sich allein gestellt.
ADHS ist bei Erwachsenen deutlich schwerer zu erkennen als bei
Kindern. Weil mit zunehmendem Alter die Hyperaktivität mehr in den
Hintergrund rückt und die Anpassungsprobleme sich meist mit anderen
psychischen Symptomen vermischen, wird sie in vielen Fällen
fehldiagnostiziert. Hinzu kommt, dass viele Betroffene erst dann Hilfe
suchen, wenn sie an ihrer psychischen Belastungsgrenze oder kurz vor
einem Burn-out
stehen. „Die Gefahr ist groß, dass vorschnell falsche Medikamente
verordnet werden, wie etwa Antidepressiva“, warnt Cordula Neuhaus.
Zu den psychischen Erkrankungen, mit denen ADHS leicht verwechselt werden kann, zählen die Schizophrenie,
die bipolare Störung (sie führt zu ausgeprägten, krankhaften
Stimmungsschwankungen; bekannter ist die Bezeichnung manisch-depressive
Erkrankung), die Manie, Depressionen,
Persönlichkeitsstörungen (die Betroffenen zeigen Verhaltensmuster, die
von situationsgerechten Reaktionen deutlich abweichen), Ängste und
Abhängigkeitserkrankungen etwa durch Drogen oder Alkohol. Auch die
Folgen von Traumen in der Kindheit können sich ähnlich wie ADHS zeigen.
Im Umkehrschluss müssen aber erst all diese Fälle ausgeschlossen
werden, um die Diagnose ADHS stellen zu können. Ebenso ist die
Fremdanamnese – also die Befragung von Familienmitgliedern oder
Freunden – ein wichtiges Kriterium.
ADHS beruht auf einer Störung des Stoffwechsels bestimmter Botenstoffe im Gehirn.
Zu den möglichen Ursachen zählen Geburts- und
Schwangerschaftskomplikationen sowie Alkoholkonsum und Rauchen der
Mutter während der Schwangerschaft. Wie die Stoffwechselstörung genau
entsteht, ist bis heute nicht ganz geklärt. Zwei Dinge sind sicher: Zum
einen kann ADHS definitiv nicht erst im Erwachsenenalter entstehen.
Selbst wenn die Störung erst dann entdeckt wird, so finden Ärzte in der
Regel bereits Hinweise in der Kindheit und Jugend. Zum anderen ist ADHS
genetisch bedingt. „Mit einer Erblichkeit von 60 bis 70 Prozent wird
kaum eine andere Erkrankung so stark genetisch weitergegeben wie ADHS“,
so Philipsen. Bei der Diagnose sollten Mediziner immer auch nach
weiteren Betroffenen in der Familie fragen.
Psychische Erkrankungen der Eltern oder Spannungen in der Familie und
im sozialen Umfeld gelten zwar nicht als Ursache von ADHS. Sie können
jedoch bei einer bereits bestehenden Veranlagung die Störung mit
auslösen oder sie weiter verschlimmern. Auch Computer, Fernsehen, Stress
und Verkehrschaos stellen die Betroffenen – die eigentlich ein
einschätzbares, ruhiges und störungsfreies Umfeld benötigen – auf eine
harte Probe. „Um das zu kompensieren, neigen ADHS-Patienten zu
Aktionssucht", so Expertin Neuhaus. Außerdem verfallen sie oft süchtig
machenden Substanzen. "Viele Betroffene rauchen beispielsweise, um
Stress abzubauen."
Eine psychologische Begleitung für die Patienten ist sehr wichtig.
Dabei geht es vor allem darum, ihnen zu zeigen, wie sie ihren Alltag
besser organisieren können. Wichtige Hilfsmittel sind etwa
Jahreskalender, To-Do-Listen und Erinnerungszettelchen. Auf diese Weise
sollen die Betroffenen mehr Struktur in ihr Leben bekommen und auch bei
weniger interessanten Tätigkeiten den Überblick behalten. Darüber hinaus
müssen ADHS-Patienten lernen, mit ihren Gefühlen besser umzugehen.
„Gruppentherapien eignen sich hierfür besonders, da die Betroffenen
nicht so schnell in Desinteresse verfallen“, so Philipsen. Auch ist die
Rückmeldung der anderen Teilnehmer sehr hilfreich, um die
Selbstwahrnehmung zu verbessern.
Bewährt haben sich außerdem regelmäßiger Sport
und verschiedene Formen von Achtsamkeitstraining. Die Betroffenen
konzentrieren sich beispielsweise unter Anleitung für zwei bis drei
Minuten auf bestimmte Geräusche. So lernen sie nicht nur, ihre
Aufmerksamkeit besser auf eine Sache zu fokussieren, sondern die
Konzentration auch für eine gewisse Zeit aufrecht zu erhalten. Mit viel
Übung und der Unterstützung eines erfahrenen Therapeuten können die
Patienten sich geistig mehr und mehr steigern. Das entspannt, fördert
die Aufmerksamkeit und motiviert zugleich.
Weil Ärzte ADHS lange Zeit ausschließlich als Störung unter Kindern und Jugendlichen ansahen, entfiel bis vor kurzem eine entsprechende Behandlung für volljährige Patienten mit dem bei Minderjährigen hauptsächlich eingesetzten Arzneistoff. Im April 2011 gab das Deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel das ADHS-Medikament Methylphenidat auch für Erwachsene frei. „In der richtigen Dosierung kann das Präparat helfen, die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin zu regulieren. Die Patienten können sich darunter besser konzentrieren und organisieren“, erklärt Alexandra Philipsen. Die Behandlungsdauer ist von Patient zu Patient sehr unterschiedlich und muss genauso wie die Dosierung und die möglichen Nebenwirkungen des Medikaments immer individuell mit dem Arzt abgestimmt werden. Je nach Schweregrad sind manche Menschen bei ADHS dauerhaft auf das Medikament angewiesen, andere nehmen Methylphenidat in Absprache mit dem Arzt nur in Zeiten erhöhter Konzentrationsprobleme ein. Einmal jährlich sollte eine Medikationspause zur Überprüfung der weiteren Notwendigkeit gemacht werden. Auch der Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin hat in Studien Wirksamkeit auf die Symptome von ADHS gezeigt und ist seit 2013 in Deutschland auch für Erwachsene zugelassen. Alle Patienten, die mit diesen Arzneistoffen behandelt werden, müssen – wie bei anderen medikamentösen Behandlungen auch – sorgfältig auf Verhaltensänderungen hin beobachtet werden. In einzelnen Fällen kann es zu Übererregung und Selbstaggression kommen. Das Medikament kann Herzfrequenz und Blutdruck steigern. Der Arzt wird daher vor allem im Erwachsenenalter regelmäßige Kontrollen vornehmen. Andere Arzneien werden in Abhängigkeit von zusätzlichen weiteren Erkrankungen eingesetzt.
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