Im Zeitalter von Fertiggerichten und künstlicher Säuglingsnahrung stehen Mütter vor der Wahl, zu stillen oder per Flasche zu füttern. Nach Meinung der Nationalen Stillkommission geben deutsche Frauen ihren Kindern zu selten die Brust. Dabei bietet das natürliche Füttern nicht nur dem Baby, sondern auch der Mutter viele Vorteile. In den meisten industrialisierten Ländern brach die Zahl stillender Mütter Mitte des letzten Jahrhunderts dramatisch ein. Marktforschungsdaten aus Deutschland zeigen ein historisches Tief um 1975, als mehr als die Hälfte der Frauen ihre Kinder bereits im Krankenhaus nicht mehr stillten. Mit den Entbindungen war auch das Stillen zur medizinischen Angelegenheit geworden, und Ärzte vertraten die Meinung, die Milch müsse aus hygienischen Gründen abgekocht sein. Darüber hinaus passten sechs feste Mahlzeiten am Tag weitaus besser in die Krankenhausorganisation als Stillen nach Bedarf.
Füttern nach Zeitplan und Stoppuhrfunktioniert bei einem gestillten Kind nämlich nicht. Stillende Mütter sollten wissen, dass sie ihrem Baby ein Drei-Gänge-Menü servieren. Zu Beginn jeder Mahlzeit enthält die Muttermilch sehr viel Flüssigkeit und dient als Durstlöscher, weshalb selbst in einem heißen Klima kein zusätzliches Wasser oder Tee nötig sind. Im Laufe einer Mahlzeit nimmt die Fettmenge der Milch dann stetig zu und gegen Ende wird mit dem Dessert die Sahne serviert: Von 1,5 g/dl steigt der Fettgehalt auf mehr als 6 g/dl an. Das Baby sollte daher bestimmen, wann und wie viel es trinkt. Bei dem häufig propagierten Füttern im Vier-Stunden-Abstand kann es zum Beispiel sein, dass das Kind schon satt ist, bevor die energiereiche Nahrung geflossen ist. Das Baby kann somit seinen hohen Energiebedarf nicht decken und ist schließlich unterernährt. Dieser Umstand rechtfertigte in der Vergangenheit vielfach die Umstellung auf Säuglingsanfangsnahrung.
Dabei
ist vielen Frauen einfach nicht bewusst, was sie ihren Kleinen
vorenthalten. Denn Muttermilch ist ein Nahrungsmittel, das speziell auf
das jeweilige Kind zugeschnitten ist. So erhält der Säugling mit der
Kolostrum genannten Anfangsmilch reichlich sekretorisches Immunglobulin
A, voll funktionsfähige Leukozyten sowie Lysozym, Lactoferrin und
Neuraminsäure zur Infektabwehr. Die natürliche Nahrung liefert zudem
stets Antikörper gegen genau die Infekte, die gerade in der Familie
grassieren, und auch um die richtige Temperatur der Milch braucht sich
die Mutter nicht zu sorgen. Darüber hinaus passt sich die
Nahrungszusammensetzung automatisch dem jeweiligen Entwicklungsstand
des Säuglings an. So enthält Frauenmilch einen hohen Anteil an
essenziellen Aminosäuren in dem Muster, wie es der wachsende Organismus
braucht. Zudem ist die natürliche Milch besonders leicht verdaulich, so
dass die Eiweißmenge in reifer Frauenmilch völlig für ein gesundes
Wachstum ausreicht, auch wenn sie geringer ist als in der Fertignahrung.
Im Vergleich zu anderer Milch findet sich besonders im Kolostrum ein
hoher Anteil an sehr langkettigen, hoch ungesättigten Fettsäuren wie
Arachidonsäure und Docosahexaensäure (DHA). Diese dienen nicht allein
als Energiereserve, sondern beeinflussen auch die Struktur und Funktion
von Organen. So wird DHA in den ersten Lebenswochen in hohem Maße in
das Gehirn und andere membranreiche Organe eingebaut. Experimente mit
Mäusen konnten zeigen, dass die Fettsäure für den Stofftransport, für
die Membranfluidität, aber auch für die Genexpression eine wichtige
Funktion hat. DHA gehört daher zu den Stoffen, die möglicherweise für
den um drei IQ-Punkte höheren Intelligenzquotienten von Stillkindern
gegenüber nicht-gestillten Kindern mitverantwortlich sind. Außerdem gibt
es Hinweise darauf, dass die Entwicklung der Sehschärfe und der
Psychomotorik durch die Fettsäure positiv beeinflusst wird.
Die
natürliche Nahrung wird vor allem durch ihren hohen Gehalt an den
essenziellen Fettsäuren Linolsäure und Linolensäure geprägt. Nur etwa 30
Prozent davon stammen unmittelbar aus der Kost der Mutter, 70 Prozent
aus einem Depot, das sie in der Schwangerschaft angelegt hat. Im Verlauf
der Stillperiode nimmt der Gehalt an gesättigten Fettsäuren zu, wobei
der Prozentsatz an Gesamtfettsäuren jedoch gleich bleibt. Auch für viele
andere Nährstoffe legen Schwangere ein Depot an, das die Ernährung des
Babys weitgehend unabhängig von der der Mutter macht. Ausnahmen sind
jedoch DHA, Jod, Selen, Fluorid, Mangan und die Vitamine A, B2, B6, B12
und Pantothensäure. Sie müssen mit der täglichen Nahrung aufgenommen
werden. Professor Dr. Berthold Koletzko vom Hanauerschen Kinderhospital
der Universität München empfiehlt stillenden Frauen daher zum Beispiel,
regelmäßig langkettige Omega-3-Fette mit der Nahrung zu sich zu nehmen,
etwa durch Fisch oder Lebertran. Verzichten Frauen auf alle
Lebensmittel tierischer Herkunft, können sie ihren Kindern weder
ausreichend DHA noch Vitamin B12 geben, wobei der Vitaminmangel zu
schweren, bleibenden neurologischen Schäden führen kann. Während
Stillberaterinnen häufig fermentiertes Sauerkraut empfehlen (das einzige
Gemüse, dass Vitamin B12 enthält), raten Mediziner zur kurzfristigen
Abkehr von der veganen Ernährung. Bei normal ernährten Frauen sind in
der Regel nur die Vitamine D und K nicht in ausreichender Menge in der
Muttermilch enthalten.
Die viel diskutierten Schadstoffe in der Muttermilch stellen heute keinen Grund mehr dar, auf das natürliche Nahrungsmittel zu verzichten. Ebenso sind ein Diabetes mellitus der Mutter, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, cystische Fibröse, wunde Brustwarzen, Flach- und Hohlwarzen sowie eine Brustoperation keine Kontraindikationen für das Stillen, sagte Professor Dr. Michael Lentze von der Universitätskinderklinik in Bonn auf einem internationalen Symposium der Nationalen Stillkommission in Berlin. Auch ein Neugeborenenikterus (Gelbsucht) sollte die Mutter nicht davon abhalten zu stillen. Normalgeborene Babys brauchen auch eine Zytomegalie mit ihrem sepsisähnlichen Krankheitsbild nicht zu fürchten. Zwar kann der Erreger aus der Familie der Herpesviren mit der Muttermilch weitergegeben werden, ebenfalls enthaltene antivirale Stoffe schützen die Kleinen jedoch vor einer Infektion. Nur bei Kindern, die vor der 33. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen und weniger als 1500 g wiegen, rät Dr. Walter Haas vom Berliner Robert Koch Institut dazu, die Milch infizierter Mütter zu pasteurisieren. Dies sollte über das heute übliche Maß hinaus geschehen, da das Virus sehr widerstandsfähig ist. Selbst das Einfrieren unter minus 20 °C übersteht der Erreger. Auch sehr unreif geborene Frühchen profitieren von der Muttermilch. Die Gabe abgepumpter Milch kann insbesondere die Gefahr intestinaler Infektionen mindern. Allerdings wird in Kliniken wie der Charite diese natürliche Sonden-Nahrung mit Eiweiß, Calcium und Phosphat angereichert, um den hohen Bedarf des schnell wachsenden Frühgeborenen zu decken.
Eine
absolute Kontraindikation für das Stillen ist eine aktive, unbehandelte
Tuberkulose der Mutter. Nach 14 Tagen medikamentöser Behandlung ist
jedoch die Infektionsgefahr zumeist vorüber und einer Brustfütterung
steht nichts mehr im Wege. Dagegen sollten HlV-infizierte Frauen ganz
auf das Stillen verzichten, wenn sie in einem entwickelten Land mit
guter medizinischer Versorgung leben. In Ländern der dritten Welt
dagegen schützt oft nur die Muttermilch vor weiteren Infektionen und
Krankheiten. Ohne Muttermilch sterben die Babys dann, lange bevor eine
mögliche HIV-Infektion ausbrechen kann. Nicht stillen sollten zudem
Mütter mit Brustkrebs sowie Frauen, die eine Chemotherapie erhalten.
Dies gilt vor allem bei einer Radio-Jod-Therapie. Des Weiteren kann ein
Milchstau, ein Verschluss des Milchganges, eine Milchzyste in der
Brustdrüse (Galaktozele) oder eine Entzündung der Brust (Mastitis)
sowohl ein Risiko für die Mutter als auch für das Kind darstellen. Hier
sollte das Stillen von Fall zu Fall abgewogen werden.
Aus
Sicht des Kindes gibt es daneben nur einige Stoffwechselerkrankungen,
die das Stillen nicht erlauben. Dazu gehören die Galaktosämie, die
Glucose-Galaktose-Malabsorption und die Tyrosinose, eine Anomalie
imTyrosinabbau. Nicht voll gestillt werden können Kinder mit
Phenylketonurie, bei denen der Abbau von Phenylalanin gestört ist. Hier
muss der größte Teil des Eiweißes in Form künstlicher
Aminosäuremischungen gegeben werden. Denn bereits bei dem natürlichen
Anteil von phenylalaninhaltigem Eiweiß in der Kost werden diese Kinder
schwachsinnig. Auch bei anderen Erkrankungen, wie der
Ahorn-Sirup-Krankheit, der Glutarazidurie oder bei
Harnstoffzyklusstörungen gilt es, die Menge der Muttermilch
einzuschränken. Darüber hinaus können Fehlbildungen des Kindes einem
erfolgreichen Stillen entgegenstehen, wie etwa ein zu kurzes
Zungenbändchen oder ein Verschluss der Speiseröhre (Ösophagusatresie).
Diese Kinder können oft erst nach einer Operation normal ernährt
werden.
Studien
zeigen, dass weniger medizinische, sondern hauptsächlich soziale
Gründe Mütter zur Baby-Flasche greifen lassen. So sind ein niedriges
Bildungsniveau und ein geringer Sozialstatus charakteristisch für die
Eltern von Flaschenkindern. Außerdem wird in der Regel nicht oder
weniger gestillt, wenn die Mutter jünger ist als 25 Jahre, wenn sie
raucht, Geschwisterkinder vorhanden sind oder der Vater eine negative
Einstellung zum Stillen hat. Aber auch Schmerzen oder eine Mastitis
können dazu führen, dass Frauen nach drei bis sechs Wochen relativ
schnell wieder abstillen. Bis zu 30 Prozent der Frauen entwickeln
während der Stillzeit eine Brustentzündung, die jedoch weitgehend
vermeidbar oder zumindest beherrschbar ist. Eine gute Beratung und das
richtige Stillmanagement sind hierzu Voraussetzung.
Wann und wie ein Kind angelegt wird, erfolgt nicht ausschließlich instinktiv. Es ist die tradierte Weitergabe dieses Wissens von einer Generation auf die nächste, die erst das Stillen ermöglicht. Zudem durchlaufen Mutter und Baby gemeinsam einen Lernprozess. Damit alle Teile der Brust richtig geleert werden können, ist es zum Beispiel wichtig, die verschiedenen Stillpositionen zu kennen. Ein gutes Anlegen vermeidet wunde Brustwarzen. Frauen sollten ihr Baby zudem so früh wie möglich stillen. Im mütterlichen Organismus wird die Blockade der Prolaktinrezeptoren zwar durch die Geburt aufgehoben, doch die Prolaktinbildung und damit die Laktation wird erst durch den nachhaltigen Saugreiz des Kindes angeregt. Daher ist auch der Saugreflex des Babys in den ersten beiden Lebensstunden am intensivsten ausgeprägt. Die gesteigerte Prolaktinproduktion bewirkt bei der Mutter eine Stimmungsaufhellung, womit frühzeitiges Stillen eine Wochenbettdepression abwehren kann. Zudem verhindert das Anlegen unmittelbar nach der Geburt einen Lymphstau in der Brust, die Gebärmutter bildet sich rascher zurück und der Blutverlust ist geringer. Auch langfristig profitiert die Mutter vom Stillen. Die während der Schwangerschaft angelegten Fett- und Nahrungsdepots zur Milchbildung werden mit dem Stillen auf natürliche Weise wieder abgebaut. Des Weiteren erkranken Mütter, die ihre Kinder gestillt haben, deutlich seltener an Brustkrebs.
Studien
zeigen, dass gestillte Kinder sehr viel seltener Übergewicht und
Adipositas entwickeln als flaschenernährte Kinder. Im Alter von sechs
Jahren sind erhebliche Unterschiede zwischen beiden Gruppen
festzustellen. Dabei können Mütter das Risiko für die kindliche
Fettleibigkeit bereits mit einer Stillzeit von zwei Monaten um die
Hälfte absenken. Im Vergleich dazu vermindert ein hoher Sozialstatus das
Risiko nur um 30 Prozent. Der Weg zur Adipositas ist ein kumulativer
Weg, betonte Professor Dr. Karl Bergmann von der Charite, Berlin. So
spielen auch Rauchen während der Schwangerschaft und der Leibesumfang
der Mutter eine Rolle. Flaschenernährung macht vermutlich eher dick, da
hier die Selbstreguiation der Nahrungsaufnahme gestört ist.
Denn beim Flaschenkind können Mütter kontrollieren, wie viel die Kleinen trinken, und neigen dazu, auch den verbliebenen Rest in der Flasche zu verfüttern. Beim Stillen hat die Mutter dagegen keinen Einfluss auf die Trinkmenge. Denn die Muttermilch enthält Substanzen, die die neurohormonale Regulation der Sättigung beeinflussen. Derzeit wird in Studien untersucht, ob der niedrige Eiweißgehalt der Muttermilch ebenfalls für diesen positiven Effekt des Stillens mitverantwortlich sein kann.
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